Die Folter der Sieger
Ein Jahr nach Beginn des Aufstandes gegen Gaddafi kommt
Amnesty International zu einem verheerenden Urteil: Libyens Milizen
seien „weitgehend außer Kontrolle“
Wer den jüngsten Libyen-Report von Amnesty International
(AI) liest, kommt zu dem Schluss, dass „Hunderte bewaffneter Milizen“
mehr oder weniger unabhängig von den Instanzen der Zentralregierung
operieren. Obwohl Tripolis im August 2011 gefallen ist, haben sich diese
Formationen noch immer nicht aufgelöst und stellen für das
demokratische Libyen eine ernsthafte Bedrohung dar. Der Nationale
Übergangsrat (NTC) habe laut AI das Problem mit den Milizen nicht in
den Griff bekommen und sei selbst nicht gegen Kombattanten – weder der
ein oder anderen Seite – vorgegangen, die in Menschenrechtsverletzungen
verwickelt waren. Auch seien nicht diejenigen vor Gericht gebracht
worden, die an außergerichtlichen Tötungen beteiligt waren – wie bei
Muammar al-Gaddafi und seinem Sohn Mutassim, die Oktober gefangen und
exekutiert wurden.
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atmen die Freiheit. Am Jahrestag der Revolution schwanken sie zwischen
Wut und Hoffnung
Darüber hinaus gibt es überwältigende Hinweise
dafür, dass Libyens siegreiche Milizen foltern. Tausende Menschen würden
in mehreren, über das Land verteilten Gefängnissen festgehalten. Seit
Oktober 2011 habe es mindestens zwölf Fälle gegeben, in denen Gefangene
zu Tode gefoltert wurden. Einer von ihnen war Omar Brebesh, Libyens
früherer Botschafter in Frankreich, der im Januar 2012 in Tripolis
starb.
Donatella Rovera, Autorin des AI-Bericht, sagt im
Interview, sie habe die Gewalt gegen Inhaftierte in einem Gefängnis in
Misrata direkt miterlebt: „Als ich gerade am Gehen war, prügelten drei
Männer, zwei von ihnen in Militärkleidung, wie verrückt auf zwei
Gefangene ein. Als ich fragte: Was machen Sie da?, antwortete man mir:
Diese Typen werden nicht entlassen werden.“ Sie habe sich beschwert und
sei später in das Gefängnis zurückgekehrt, um festzustellen, dass die
Gefangenen freigelassen waren. Aber die Appelle Amnestys an den
Übergangsrat, etwas zu unternehmen, seien auf taube Ohren gestoßen: „Ich
habe keinen einzigen Fall gesehen, der untersucht worden wäre. In den
Milizen gibt es Leute, die nicht damit einverstanden sind, was passiert,
aber das Gefühl haben, es nicht öffentlich machen zu können.“ Ihrer
Meinung nach sollten NATO-Staaten, die beim Sieg über Gaddafi eine
wichtige Rolle gespielt haben, mehr Druck auf die Verantwortlichen
ausüben und sie zum Handeln drängen.
Enteignet oder verbrannt
Amnesty
hat seit Anfang 2012 Dutzende von Gefangenen interviewt, die in und um
Tripolis, Zawiya, Misrata und Sirte festgehalten werden. Sie sagten
aus, sie seien in schmerzhaften Positionen fixiert, stundenlang mit
Peitschen, Stöcken und Stangen geschlagen und durch Elektroschockwaffen
mit Stromschlägen gequält worden. „Die Muster ihrer Verletzungen
stimmten mit ihren Aussagen überein“, heißt es im AI-Bericht.
Seitdem das Regime Gaddafis zusammengebrochen ist,
haben die Milizen Tausende von Gefolgsleuten des Ex-Diktators, Soldaten
und mutmaßlich ausländische Söldner gefangenen genommen. Sie haben
Häuser abgebrannt, Zehntausende Menschen vertrieben und gegen Gemeinden
Kollektivstrafen verhängt, von denen man annahm, sie hätten während der
Kämpfe die Truppen Gaddafis unterstützt. In der Küstenstadt Misrata, wo
es besonders heftige Gefechte gab, mussten Familien, die nach der Flucht
zurückkamen, feststellen, dass ihre Wohnungen an andere vergeben waren.
Irgendjemand hatte sie als Verräter denunziert, ihren Besitz enteignet
oder verbrannt. Die Milizen haben die 30 Kilometer von Misrata gelegene
Stadt Tawargha, die als Gaddafi treu galt, verwüstet und die gesamte
Bevölkerung von 30.000 Menschen vertrieben.
Als Guardian-Reporter
jüngst Misratas zentrales Militärgefängnis besuchten, konnte sie keine
Anzeichen von Misshandlungen feststellen. Hunderte von Gefangene
befanden sich auf dem Hof, ungefähr 40 hatten sich mit Koffern und
Taschen in eine Schlange gestellt und warteten auf ihre Entlassung. Der
Gefängnisleitung zufolge verdächtigte man sie nicht länger, an
Kriegsverbrechen beteiligt gewesen zu sein. Médicines Sans Frontières
(MSF) zufolge werde aber in anderen Haftanstalten der Stadt durchaus
gefoltert. Die Organisation hat im Januar die Behandlung gefolterter
Gefangener aus Protest gegen die andauernden Misshandlungen eingestellt.
Sie hätten 112 Gefangene behandelt, die zum Teil mehrmals gefoltert
worden seien. Dies habe sie dazu veranlasst, Misrata aus Protest zu
verlassen.
Gerade fünf Minuten
Einer
nicht-militärische Quelle in Misrata zufolge besteht das Problem darin,
dass es keine Kommandostruktur für die Milizen gibt und jeder Gefangene
de facto als deren Besitz gilt und so deren Willkür ausgeliefert ist.
Einige mögen milde sein, andere hingegen sind brutal. Es gibt keine
Militärpolizei, die Verhaltensstandards durchsetzt. Die Milizen haben
auch schwarze Libyer und Arbeitsmigranten aus Subsahara-Afrika mit der
Begründung festgenommen, sie seien Söldner Gaddafis. Viele wurden
gefoltert. „Die vom NTC geführte Übergangsregierung scheint weder die
Fähigkeit noch den politischen Willen zu besitzen, an diesen Zuständen
etwas zu ändern. Und die Milizen ihrerseits wollen sich keiner
Autorität unterwerfen“, so Amnesty.
Hana el-Gallal von der
Menschenrechtsgruppe Libyscher Nationalrat für Grundrechte- und
Freiheiten teilt die Einschätzung, dass die Milizen kontrolliert werden
müssten. Der Besuch eines improvisierten Gefängnisses in der Küstenstadt
Sirte im Januar habe gerade einmal fünf Minuten gedauert und man habe
die Amnesty-Mitarbeiter aufgefordert, wieder zu gehen, bevor die
überhaupt mit den Insassen sprechen oder diese untersuchen konnten.
In
den von der Zentralregierung kontrollierten Zentren sitzen derzeit
ungefähr 2.400 Häftlinge ein. Aber man geht davon aus, dass die Milizen
noch Tausende weitere festhalten. Das Internationale Rote Kreuz
berichtet, es habe zwischen März und Dezember 2011 8.500 Gefangene in 60
Gefängnissen besucht. Im Januar sprach die UN-Menschenrechtsbeauftragte
Navi Pillay ganz offen aus: „Es gibt Folter, außergerichtliche
Tötungen, Vergewaltigungen von Männern und Frauen.“
Während
Gaddafis 42-jähriger Regentschaft wurde durchweg gefoltert, und die
Aussagen von Gefangenen legen nahe, dass sich daran nicht viel geändert
hat. Ein 29 Jahre alter ehemalige Soldat sagte gegenüber Amnesty, er
habe im November mit einem Freund zusammen gerade Tripolis besucht, als
zwei bewaffnete Männer ihn ergriffen und an einen ihm unbekannten Ort
verschleppt hätten. Die Männer warfen ihm vor, für Gaddafi gekämpft zu
haben. Er erinnerte sich: „Ich musste mich mit dem Rücken auf ein Bett
legen und wurde dann mit Händen und Füßen an das Bettgestell gefesselt.
In dieser Position schlugen sie mir mit den Fäusten ins Gesicht, dann
mit einem Plastikschlauch auf die Füße. Danach musste ich mich auf den
Bauch legen, und sie schlugen mich wieder mit dem Schlauch, dieses Mal
auf den Rücken und den Kopf. Sie versetzten mir auch an verschiedenen
Körperteilen elektrische Schläge und verwendeten dazu einen schwarzen,
etwa 50 Zentimeter langen Stock. Auch mein Cousin erhielt
Elektroschocks. Die Folter dauerte bis drei Uhr morgens. Dann steckten
sie uns in einen Wagen und fuhren uns zurück zur Straße nach Tripolis
und ließen uns dort zurück.“
In manchen Fällen starben die
Gefangenen. Bei der Obduktion von Fakhri al-Hudairi al-Amari – er wurde
im November getötet – stellte man über den Körper verteilt parallele
Druckstellen von elektrischen Schlägen festgestellt, an der linken Hand
fehlten zwei Nägel, er hatte Brandwunden auf der Stirn, dem rechten
Unterarm und dem rechten Handgelenk, Prellungen an beiden Knöcheln und
schwerwiegende Abschürfungen an den Fußsohlen.
Im November erließ
das neue Innenministerium ein Dekret, das es den „Revolutionsbrigaden“
untersagte, Verdächtige zu verhaften und zu verhören. Dieser Erlass
werde weitgehend ignoriert, so Amnesty International.